Wenn Richter den falschen verurteilen…

Unschuldig und trotzdem bestraft.Das Thema womit sich dieser Informationsblog künftig befassen wird.

Sollten sie ebenfalls betroffen sein, so dürfen sie uns jederzeit ihre Geschichte schildern.

Wir veröffentlichen Beweismaterial, sorgen dafür das es Richter und Staatsanwälte auch erreichen wird und stellen die wahren Verantwortlichen an den Pranger.

Folgenden sehr Interessanten Artikel können sie der Quelle NTV entnehmen.

„Super-Gau in der Justiz-Geschichte“
Wenn der Richter sich irrt

Von Gudula Hörr

Eigentlich sollte vor Gericht gelten: „Im Zweifel für den Angeklagten“. Doch ist dem auch so? Zeigen nicht vielmehr die jüngsten spektakulären Fehlurteile, wie schnell man zu Unrecht im Gefängnis oder in der Psychiatrie landen kann?

Am Dezember 2010 beendet der Bundesgerichtshof ein düsteres Kapitel der deutschen Justizgeschichte: Die Richter sprechen Harry Wörz frei vom Vorwurf der versuchten Tötung seiner Ehefrau Andrea Z.. Mehr als 13 Jahre hatte der Bauzeichner da schon bestritten, die Streifenpolizistin mit einem Schal erdrosselt zu haben – doch nur wenige wollten ihm glauben. Viereinhalb Jahre saß er im Gefängnis, über Jahre verfolgte ihn die Justiz und trieb ihn in den finanziellen und gesundheitlichen Ruin. „Ich will mein Leben zurück“, sagt er heute. Doch dafür ist es zu spät. Er ist krankgeschrieben, hat Depressionen, und sitzt auf Anwaltskosten in Höhe von 200.000 Euro.

Der Fall Wörz ist nur einer von vielen, wie der Jurist und Journalist Thomas Darnstädt in seinem Buch „Der Richter und sein Opfer. Wenn die Justiz sich irrt“ eindrucksvoll schildert. Immer wieder kommt es in der deutschen Strafjustiz zu Fehlurteilen, die für die Opfer katastrophale Konsequenzen nach sich ziehen. Gustl Mollath wurde sieben Jahre in psychiatrischen Kliniken eingesperrt, der Lehrer Horst Arnold saß wegen angeblicher Vergewaltigung einer Kollegin fünf Jahre unschuldig im Gefängnis, die Angehörigen des Landwirts Rudolf Rupp mussten dafür büßen, dass sie diesen angeblich getötet und an die Schweine verfüttert hatten – bis schließlich die Leiche des Verfütterten in seinem Auto in der Donau auftauchte.

Zwar gibt es keine amtliche Statistik, die Justizirrtümer auflistet. Und die Zahl der Wiederaufnahmeverfahren ist mit offiziell 1176 bei 800.000 Fällen im Jahr 2010 verschwindend gering. Allerdings rechnen einige Juristen mit einer hohen Dunkelziffer bei Fehlurteilen. Besonders verheerend ist die Einschätzung von Ralf Eschelbach, Richter am Bundesgerichtshof, den Darnstädt zitiert: Dass es „kaum falsche Strafurteile gebe“, sei eine „Lebenslüge der Justiz“, so Eschelbach. Er geht davon aus, dass jedes vierte Strafurteil ein Fehlurteil ist. Konkret hieße das: An jedem Werktag würden in Deutschland 650 Menschen unrechtmäßig wegen einer Straftat verurteilt.

Letztlich, so Darnstädts These, kann es jeden treffen. Wer am Anfang noch glaube, die ungeheuerlichen Vorwürfe würden sich schnell wieder aufklären, würde meist enttäuscht. Nichts kläre sich von selbst auf, meist seien es Zufälle, wenn die Wahrheit – oft erst nach Jahren – ans Tageslicht komme. Und er zitiert den BGH-Richter Eschelbach: „Es wird die Gefahr übersehen, wie einfach und gebräuchlich es ist, unerwünschte Personen im Wege des Strafverfahrens aus dem Verkehr zu ziehen.“

Dass unbescholtene Bürger fast über Nacht zu verurteilten Verbrechern werden können, untermauert Darnstädt anhand vieler Beispiele und durch ausführliche Interviews mit Richtern, einem Strafverteidiger und einem Psychologieprofessor. Dabei macht er deutlich: Die Fehler liegen im System, und sie beginnen oft schon bei den Ermittlungen.

Ermittler unter starkem Druck

Exemplarisch zeigt sich das im Fall Wörz, den Darnstädt als den „Super-GAU in der bundesdeutschen Justizgeschichte“ bezeichnet. Hier lief offenbar falsch, was nur falsch laufen konnte. So ermittelten vor Ort ausgerechnet die Kollegen der fast zu Tode gewürgten und für immer schwerstbehinderten Andrea Z.. Dabei wüteten sie am Tatort „wie eine Herde Elefanten“, so ein Richter Jahre später. Sie unterließen Standardmaßnahmen und ließen Beweismaterial verschwinden, das nicht zu der These passte, dass Harry Wörz der Täter war.

Gründe für diesen Eifer der Ermittler gibt es viele: So wissen sie oft den Volkszorn auf ihrer Seite und stehen unter massivem Druck, schnell einen Täter zu präsentieren. „Polizisten“, so Darnstädt, „sind Jäger. Ihnen geht es nicht um Gerechtigkeit und deren Voraussetzung, die Wahrheit. Ihnen geht es darum, einen Täter zu stellen und so eine Straftat aufzuklären.“ Nur wer einen Täter vorweise, bekomme ein Lob. Da wird dann die Wahrheit auch mal zurechtgestutzt und alle Fakten, die stören, außen vorgelassen.

Grundsätzlich müssen Fehler bei den Ermittlungen ja noch nicht zu Fehlurteilen führen. Jedoch glaubt etwa der im Buch zitierte Strafrechtsprofessor Bernd Schünemann, dass mittlerweile die Hauptverhandlungen im Gericht immer weniger maßgeblich seien, „die Würfel fallen im Ermittlungsverfahren“. Immer mehr stützen sich die Richter offenbar auf die Arbeit der Polizei und deren Vernehmungsprotokolle.

Erinnerungstechniken des 19. Jahrhunderts

Dabei zeigt sich dann regelmäßig eine Schwachstelle: In den Vernehmungszimmern herrschen, so Darnstädt, noch immer die Erinnerungstechniken des 19. Jahrhunderts, oft gibt es keine Tondokumente. Viele Protokolle von Zeugen sind nur lückenhaft, selbst in Protokollen, die direkt nach einer Zeugenbefragung erstellt wurden, taucht laut einer Studie rund ein Drittel aller relevanten Tatsachen gar nicht auf. Dafür Sätze, die so nie gefallen sein dürften, wenn etwa der Russlanddeutsche Nikolai H. in perfektem Beamtendeutsch gesteht, einen Holzblock auf eine Autobahn geworfen zu haben: „Ich vermute, dass ich Frust über das Nichterlangen von Drogen hatte und deswegen zu dieser Handlung gekommen bin.“

Schon alleine viele Geständnisse, die in Untersuchungshaft zustande kommen, sind offenbar mit Misstrauen zu bewerten. BGH-Richter Eschelbach rechnet mit mehr als zehn Prozent unentdeckter falscher Geständnisse. Oft kommen die Geständnisse in Abwesenheit der Anwälte zustande, nach Druck und Versprechungen auf ein milderes Urteil, die Ermittler bearbeiten die Verdächtigen mit Suggestivfragen, bis sie weichgekocht sind. Wie im Fall Wörz, der schließlich auf einen Zettel schreibt: „Hiermit gebe ich alles ohne Wenn und Aber zu. Ich will nur noch meine Ruhe.“ Dass er später vor Gericht „bei Gott“ schwor, seine Frau nicht umgebracht zu haben, nützte ihm dann nichts mehr.

Schließlich begeben sich manche Richter, so Darnstädt, so verbissen auf die Suche nach der Wahrheit, dass sie sich die Realität zurechtlegen, wie sie gerade passt. Oft sind sie dabei offenbar überfordert, die Fakten richtig zu rekonstruieren, wird das doch in der Richterausbildung nicht vermittelt. Externe Gutachter spielen eine immer größere Rolle, und der Druck ist groß, nach einem teuren Prozess mit Dutzenden von Verhandlungstagen, der nach Gerechtigkeit schreienden Öffentlichkeit auch ein Ergebnis zu präsentieren. Groß ist bisweilen auch die Selbstüberschätzung einiger Richter, die nur selten an ihren Urteilen zweifeln. Sie glauben, die Wahrheit gefunden zu haben – ein gleichermaßen eitles wie aussichtsloses Unterfangen.

Dass es zu Fehlurteilen kommt, wäre wohl nicht so ein Gau, wenn es im Strafrecht mehr Möglichkeiten gäbe, einen Prozess neu aufzurollen. Oder wenn tatsächlich mehr Kontrollinstanzen existierten, und der Wille, nach Fehlurteilen Konsequenzen zu ziehen. Dieser ist aber auch nach spektakulären Fehlurteilen kaum zu erkennen. Bei einem Flugzeugabsturz, so Darnstädt, würden kilometerweise die Meere abgesucht, um die Ursache für den Fehler zu finden. Bei der Justiz hingegen stellt sich im Falle eines Irrtums nur selten die Frage nach dem Warum.

Darnstädt allerdings stellt die Frage und beantwortet sie ebenso vielschichtig wie klug. Herausgekommen ist dabei ein sehr lesenswertes und gut geschriebenes Buch, das ein beängstigendes Licht auf das deutsche Strafrechtssystem wirft. Es liest sich wie ein Krimi, der bittere Realität geworden ist. Und der deutlich vor Augen führt: Der Grundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“ ist in viel zu vielen Fällen nur ein leeres Versprechen.

 

Ein weiterer Artikel: Quelle Süddeutsche.de

Unschuldig hinter Gittern

Wie die deutsche Justiz ihre Opfer im Stich lässt

Hunderte Menschen kommen jedes Jahr für Taten in Haft, die sie nicht begangen haben. Doch Hilfe können sie nach ihrer Freilassung nicht erwarten. Für das oft zerstörte Leben der Justizopfer hat der Staat nur 25 Euro Schadenersatz pro Gefängnistag übrig – und viele bürokratische Schikanen.

Von Silke Bigalke
Für Wiedergutmachung ist es jetzt zu spät. Horst Arnold ist gestorben, auf der Straße umgefallen, Herzstillstand mit 53Jahren. Als er starb, hatte Arnold fast elf Jahre Kampf hinter sich, fünf davon saß er unschuldig in Haft. Eine Kollegin hatte den Biologielehrer beschuldigt, sie in einer Schulpause vergewaltigt zu haben. Nach dem Gefängnis kämpfte er knapp sechs Jahre lang für seine Rehabilitation, um Schadensersatz und darum, sein Leben zurück zu bekommen.

Arnold hat immer wieder verloren, nie einen Cent Entschädigung gesehen, nie eine Entschuldigung gehört. Heidi K., die Frau, die ihn zu Unrecht beschuldigt hat, wird jetzt wegen Freiheitsberaubung angeklagt. Das gab die Staatsanwaltschaft Darmstadt am 10. Juli 2012 bekannt – zehn Jahre, nachdem das angebliche Opfer vor Gericht gegen Arnold ausgesagt hatte, und zwei Wochen nach Arnolds Tod.

Arnold hinterlässt nicht viel. Pauschal stand ihm ein immaterieller Schadenersatz von 45.650 Euro zu, 25 Euro für jeden Tag Gefängnis. Es ist Schmerzensgeld für eine Qual, die Arnold immer wieder an Selbstmord denken ließ, wie er später in Interviews berichtet hat. Zwangs-Psychologisierung, Gruppentherapie mit Sexualstraftätern, später im Knast wird er von Mithäftlingen verprügelt. „Für diesen seelischen Schaden 25 Euro zu zahlen ist ein Hohn“, sagt sein Anwalt Hartmut Lierow, der für einen Fall wie Arnold mindestens 150 Euro am Tag fordern würde – nicht nur für die Haft, sondern auch für die Zeit danach bis zum Freispruch. Den Schadenersatz-Anspruch hat jetzt Arnolds Tochter geerbt.

25 Euro Entschädigung pro Tag

Kein Land in Europa zahlt Opfern von Fehlurteilen so wenig wie Deutschland, sagt der Rechtsanwalt Ulrich Schellenberg, Berliner Landesvorsitzender im Deutschen Anwaltverein. Diese Menschen seien oft traumatisiert, die geringe Entschädigung ein „bodenloser Skandal“. Erst 2008 wurde der Satz von 11 Euro auf 25 Euro pro Tag angehoben. Der Deutsche Anwaltsverein hatte 100 Euro gefordert, so viel etwa zahlen auch mehrere andere EU-Staaten.

Doch die Justizminister der Länder konnten sich zu mehr Geld nicht durchringen. Dabei zahlten sie 2011 nur etwa 1,2Millionen Euro Entschädigung für mehr als 47.000 Tage, die Unschuldige in Haft verbrachten. Das ergab eine Umfrage der Süddeutschen Zeitung unter den Bundesländern, wobei drei Länder – Thüringen, Sachsen und Baden-Württemberg – keine Zahlen liefern konnten. Die Summe liegt also höher, frühere Schätzungen gehen von bundesweit 70 000 Hafttagen im Jahr aus. Das würde bedeuten, dass an jedem Tag durchschnittlich 192 Menschen für ein Vergehen in Haft oder Untersuchungshaft sitzen, das sie nicht begangen haben oder das ihnen nicht nachgewiesen werden konnte.

 

888 Tage unschuldig im Gefängnis

Monika de Montgazon saß 888 Tage. Auch sie kämpft seit Jahren um Wiedergutmachung. Auch ihr Fall erregte bundesweit Aufsehen, auch sie hat immer wieder verloren.2005 bekam sie Lebenslänglich. Das Gericht war der Überzeugung, sie habe im September 2003 ihr Haus angezündet. Ihr Vater, der mit ihr dort lebte, starb bei dem Brand. Ihr Schwager Rudolf Jursic glaubte an ihre Unschuld, arbeitete sich durch chemische Formeln, wühlte in Fachzeitschriften, beauftragte Experten. Ergebnis: Das Brandgutachten war falsch, der Tod seines Schwiegervaters ein Unfall.

Der Bundesgerichtshof hob das Urteil in der Revision auf, Montgazon wurde im März 2006 aus der Haft entlassen. Zwei Jahre dauerte es bis zum neuen Verfahren – eine Zeit, in der sie völlig allein gelassen wird von den Behörden, keinen Job findet, keine Wohnung. Wer stellt schon jemanden ein, auf den noch ein Verfahren wartet? Wer will einen Mieter, dessen letzte Adresse der Knast war? Von den Behörden bekam sie keine Hilfe. „Man wird völlig im Regen stehen gelassen“, sagt Montgazon. Das änderte sich auch dann nicht, als sie2008 freigesprochen wurde.

Die ehemalige Arzthelferin hat bis heute keine Anstellung gefunden. „Die Stigmatisierung, die mit dem Gefängnis einhergeht, endet nicht mit dem Freispruch“, sagt der Anwalt Schellenberg. Das liegt auch daran, dass die Justiz so verschämt mit ihren Opfern umgeht. Fehler sind nicht vorgesehen, unschuldig Inhaftierte dürfte es gar nicht geben, deswegen gibt es auch keine geregelte Hilfe für sie. Während Straftätern nach ihrer Haftentlassung bei der Job- und Wohnungssuche geholfen wird, stehen die Freigesprochen ganz alleine da.

Nicht einmal eine Entschuldigung hat Montgazon gehört – dafür, dass sie ihren Sohn bei seinen Besuchen im Knast nicht berühren durfte, dafür, dass sie die Beerdigung ihres Vaters nicht miterlebt hat, weil sie nicht in Handschellen vor dem Sarg stehen wollte, dafür, dass sie wohl nie wieder als Arzthelferin arbeiten kann. Ihr Leben ist zerstört. Für den Gutachter, der sich geirrt hat, für den Staatsanwalt und den Richter hatte der Fall keine Konsequenzen.

Nach der Haft beginnt der Papierkrieg

Vier Jahre nach dem Freispruch kämpfen Montgazon und ihr Schwager Jursic immer noch mit der Justiz. Es geht um die Kosten für die Brandgutachten, die Montgazons Unschuld bewiesen haben. Das Berliner Kammergericht entschied, nur einen Teil zu übernehmen. 32 000 Euro soll die 56-Jährige selbst zahlen, Revision ist diesmal nicht erlaubt. Die Gutachter seien zu teuer gewesen, Montgazon hätte wirtschaftlicher denken sollen, so fasst sie selbst die Urteilsbegründung zusammen. „Das ist eine Frechheit“, sagt sie, „sollen die mal im Knast sitzen und wirtschaftlich denken.“ Jetzt zieht sie gemeinsam mit ihrem Schwager vors Bundesverfassungsgericht. Zur Not, sagt Jursic, gehe er bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Er will Gerechtigkeit: „Es geht verdammt noch mal ums Prinzip.“

Neben dem immateriellen Schadenersatz, dem Schmerzensgeld, haben unschuldig Inhaftierte Anspruch auf materiellen Schadensersatz. Sie werden zum Beispiel für ihren Verdienstausfall entschädigt, für Verluste bei der Rentenversicherung, und wenn sie während der Haftzeit ihre Wohnung verloren haben. Doch sie müssen alles genau belegen können. „Eine unendliche Fummelarbeit“, sagt Rechtsanwalt Lierow, der den verstorbenen Lehrer vertreten hat. Arnold musste nachträglich Monat für Monat der Haft den Verdienstausfall berechnen, Änderungen im Tarifrecht berücksichtigen, Belege aus einer Zeit vorlegen, in der er selbst hinter Gittern saß. Es komme sogar vor, dass Geschädigte auf das Geld verzichten, sagt Anwalt Schellenberg, „weil sie keine Kraft mehr haben, sich mit Ämtern auseinanderzusetzen“.

 

Die Folgen falscher Geständnisse

Auch Arnold hatte am Ende keine Kraft mehr. Er sei „sozial marginalisiert“ worden, sagt sein Anwalt Lierow, habe seinen Job verloren, seine Freunde, seine Ehre. Der Anwalt hat dafür gekämpft, dass Arnold wieder als Lehrer eingestellt wird. Doch das hessische Kultusministerium wies darauf hin, dass laut Strafgesetzbuch jeder, der zu mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe verurteilt wurde, „für die Dauer von fünf Jahren die Fähigkeit“ verliere, „öffentliche Ämter zu bekleiden“.

Es half auch nichts, als das Landgericht Kassel Arnold im Juli2011 freisprach. Der Fall ging in Revision, der Bundesgerichtshof bestätigte den Freispruch erst im Februar 2012, da war Arnold bereits fünfeinhalb Jahre draußen. Auch dann hieß es nur: „Bewirb dich halt“, klagt Lierow, „man hätte ihn an die Hand nehmen müssen und sagen: Tut uns leid, wir, das Land Hessen, sind schuld an deinem Unglück und jetzt sehen wir zu, dass wir was für dich machen.“ Das hessische Kultusministerium schrieb auf Anfrage, Arnolds Tod habe große Bestürzung ausgelöst. Und: „Besonders tragisch ist, dass Herr Arnold aller Voraussicht nach zum neuen Schuljahr ein Einstellungsangebot für die Fächerkombination Sport/Bio erhalten hätte.“ Man bedauere sehr, dass er dieses Angebot nicht mehr erlebt habe.

Hätte es etwas geändert? Anwalt Lierow glaubt, sein früher Tod habe mit Arnolds Lebensgeschichte zu tun, sieht einen Zusammenhang zwischen Stress und Herzinfarkt. Immer wieder zu hoffen, auf Hafterleichterung, frühzeitig entlassen zu werden, einen Job zu finden – und immer wieder enttäuscht zu werden, das sei unvorstellbarer Stress: „Arnold hat die schlechtesten Karten immer wieder gezogen.“

Noch weniger Chancen hätte er gehabt, wenn er ein falsches Geständnis abgelegt hätte, um die Haft zu erleichtern oder sogar zu verkürzen. Was ein Falschgeständnis anrichten kann, zeigt der Fall Rudolf Rupp. Der Landwirt aus Oberbayern war an einem Abend im Herbst 2001 verschwunden. Seine Frau, seine beiden Töchter und der Verlobte einer Tochter sagten aus, Rupp getötet, die Leiche zerstückelt und an die Hofhunde verfüttert zu haben. Sie wurden im Mai 2005 zu Haftstrafen zwischen zwei und knapp sechs Jahren verurteilt.

„So kann man doch niemanden vernehmen“

Vier Jahre später fand man die Leiche des Landwirts in der Donau. Nichts wies auf Gewalteinwirkung hin. Warum hatten die vier gelogen? Die Angeklagten gelten als minderbegabt, der IQ der Mutter liegt nur bei 52. Die Polizei veröffentlichten später Videos, die zeigen, wie die Beamten die angebliche Tat mit der Familie auf deren Hof nachspielen. Jeder sagt etwas anderes aus: Die Mutter habe den Vater die Treppe hinunter gestoßen, die Verlobte habe ihn von hinten erschlagen. „Bei diesen Ausschnitten habe ich gedacht, so kann man doch niemanden vernehmen“, sagt Henning Ernst Müller, Professor für Strafrecht an der Universität Regensburg, „das waren inquisitorische und suggestive Fragen.“

Es nützt nichts: Trotz Freispruch soll keiner von ihnen eine Entschädigung für die Jahre im Gefängnis erhalten. Sie seien wegen ihrer falschen Aussagen selbst schuld an der Verurteilung, begründet das Landgericht Landshut. Beschwerden beim Oberlandesgericht München und beim Bundesverfassungsgericht bleiben erfolglos. Die Verteidiger bereiten jetzt eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vor.

Falsche Geständnisse gibt es immer wieder, sagt der Strafrechtler Müller. Auch für Horst Arnold war es nicht leicht, nicht zu gestehen. Die erste Zeit der Haft verbrachte er in der Psychiatrie. Er wurde bedrängt, seine Schuld einzugestehen. Erst drohten die Psychologen mit Einzelhaft, dann köderten sie ihn mit Hafterleichterung und der Chance auf vorzeitige Entlassung, berichtet sein Anwalt. Am Ende verlegten sie ihn ins Gefängnis. Während geständige Täter oft vorzeitig entlassen werden, sitzt der unschuldige Arnold dort bis zum letzten Tag. Wenn er gestanden hätte, wäre er wohl nie freigesprochen worden. Andererseits: Auch der Freispruch hat ihm am Ende wenig geholfen.

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